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AutorenbildPANTA RHAI

Von Faktenprüfung bis Personalisierung: Die Rolle der KI im modernen Journalismus – Ein Interview mit Ritu Kapur

Fünf Fragen zur Zukunft der Medien mit Ritu Kapur – Mitbegründerin und Geschäftsführerin von "The Quint" – einer digitalen Nachrichtenplattform, die sich auf Nachrichten rund um den indischen Subkontinent konzentriert. Kapur ist Mitglied im Beirat des Oxford Reuter Instituts für Journalismusforschung, des World Editors Forum bei WAN-IFRA und von Future News Worldwide.


Was sind die interessantesten Anwendungsfälle, die Sie kürzlich in Ihrem Arbeitsfeld erlebt haben und warum?


"Der Einsatz von KI hat sich bisher hauptsächlich auf Übersetzungen, die Optimierung von Metadaten und das Schreiben von Zusammenfassungen konzentriert, aber jetzt bewegt sich der Fokus hin zur Personalisierung von Formaten. Zum Beispiel gibt es die Möglichkeit für den Nutzer, einen langen Text in Form von Stichpunkte, als Audio oder als kurzes Video zu konsumieren - je nach Präferenz. Die Personalisierung von Formaten ist ein großes Thema im digitalen Publishing weltweit, und KI wird genutzt, um dies zu ermöglichen. Ein weiterer interessanter Einsatz ist die interaktive Gestaltung von Nachrichten durch Chatbots und persönliche KI-Assistenten. Unser CMS, entwickelt von unserer Tech-Firma "Quintype", enthält viele KI-Innovationen. Es wird von Verlagen im Nahen Osten, in Europa und in mehreren Ländern des indischen Subkontinents, einschließlich Bangladesch, genutzt.


Ein Hauptbestandteil unserer Arbeit ist außerdem das Prüfen von Fakten. Daher nutzen wir einige KI-Tools, um den Prozess der Faktenüberprüfung zu beschleunigen. Zum Beispiel verwenden wir Tools wie ElevenLabs, um herauszufinden, ob eine Audiospur echt oder gefälscht ist. KI kann auch dabei helfen, zu erkennen, ob ein Video KI-generiert oder echt ist, und es kann sogar helfen, das Video zu datieren, um Desinformation zu verhindern, indem es zeigt, wann das Video ursprünglich erstellt wurde."


Welche Veränderungen durch den Einfluss von Künstlicher Intelligenz konnten Sie in Ihrem Arbeitsfeld feststellen?


"Viele Redaktionen nutzen KI, um die Menge an Inhalten für die Suchmaschinenoptimierung zu erhöhen, aber wir sind den gegenteiligen Weg gegangen. Vor drei Jahren haben wir täglich rund 150 Inhalte veröffentlicht. Heute sind es nicht mehr als 20 oder 30. Wir haben uns vollständig von standardisierten Nachrichten – Nachrichten, die überall verfügbar sind – entfernt. Wir konzentrieren uns nur noch auf investigative und exklusive Berichterstattung, entweder in Videoformaten, Podcasts oder Texten.


Wie viele Verlage nutzen wir bei "The Quint" KI vor allem im Backend und für Produkte, etwa für Empfehlungen und die Beschleunigung des Veröffentlichungsprozesses. Aber wir setzen Generative KI vor allem kreativ ein. Zum Beispiel nutzen wir Midjourney, um einige unserer Videos und interaktiven "Immersives" zu visualisieren.


Wir blockieren KI auch davor, unsere Inhalte zu durchsuchen. Wir möchten nicht, dass unsere Inhalte ausgebeutet werden. Die Verlagsbranche hat einen Fehler gemacht, als soziale Medien aufkamen und Plattformen wie Facebook unsere Nachrichten verteilten. Wir haben gesehen, wie viel Einfluss wir in Bezug auf Einnahmen und Kontrolle über unsere Inhalte verloren haben. Diesen Fehler wollen wir mit KI nicht wiederholen."


Wie groß wird der Einfluss der Künstlichen Intelligenz in Ihrem Arbeitsfeld sein, und welche Merkmale sehen Sie?


"Ich glaube, dass KI dabei helfen wird, repetitive Aufgaben zu übernehmen, sodass Journalisten sich mehr auf Recherchen und Berichterstattung vor Ort konzentrieren können. Allerdings werden wir KI nicht nutzen, um journalistische Inhalte zu generieren oder Geschichten zu finden.


Wir nutzen KI bisher noch nicht ausreichend, aber ich denke, dass viele Redaktionen KI inzwischen für Datenjournalismus verwenden, was ich für eine sehr gute Nutzung von KI halte. Sie kann große Datenmengen durchforsten und daraus Geschichten ableiten. Zum Beispiel haben wir ChatGPT für eine große Geschichte über Wahlkampfspenden von  Großunternehmen genutzt. Es handelte sich um sehr "dichte" Daten, aber wir konnten ChatGPT nutzen, um daraus Geschichten zu extrahieren.


Allerdings stehen wir noch am Anfang der KI-Entwicklung. Alle Prognosen deuten darauf hin, dass sich KI schnell weiterentwickeln wird. Wir befinden uns wirklich noch im 'Modem-Zeitalter' der KI; sie ist noch nicht vollständig angekommen, aber sie wird uns viel mehr beeinflussen, wenn sie sich weiterentwickelt. Wir müssen ständig dazulernen und uns weiterbilden, und wir müssen entscheiden, in welchen Bereichen und zu welchem Zeitpunkt wir KI im Journalismus einsetzen. Sie sollte den Journalismus unterstützen und verbessern, aber nicht den redaktionellen Kern übernehmen.


Wir sind auch sehr vorsichtig. Als die sozialen Medien ins digitale Publishing kamen, waren wir wie Kinder im Süßwarenladen und wollten jedes neue glänzende Ding ausprobieren, was den Verlagen geschadet hat. Jetzt sehen wir KI als etwas, das wir sorgfältig navigieren müssen. Zum Beispiel ist der Suchmaschinen-Traffic sehr wichtig für digitale Verlage, aber KI-generierte Zusammenfassungen auf Plattformen wie Google bedrohen diesen. Wenn Sie etwas suchen, erhalten Sie jetzt eine KI-Zusammenfassung, sodass Sie nicht unbedingt auf die Seite des Verlags klicken müssen. Diese Veränderung könnte den Traffic für unabhängige Verlage wie uns verringern.


Es gibt derzeit auch viel zu viel Hype um KI. Sundar Pichai sagte etwas, dem ich zustimme: 'Das Risiko, zu wenig in KI-Infrastruktur zu investieren, ist weitaus größer als das Risiko, zu viel zu investieren.' Es kann Ihrem Markenimage mehr schaden als nützen."


Welche Entwicklungen in Ihrer Branche würden Sie sich wünschen? Wie könnte technologische Innovation/Künstliche Intelligenz dazu beitragen?


"Was ich mir wünsche, ist, dass wir KI so einsetzen, dass die Erfahrung, die ein Nutzer auf unserer Website macht, etwas ist, das er nirgendwo anders bekommt – nicht auf Google, nicht auf Facebook, nicht auf Instagram. Das wäre dann der Grund, warum die Menschen zu unserer maßgeschneiderten Seite kommen. Die Herausforderung besteht darin, KI so zu nutzen, dass sie die Leser direkt zu uns bringt. Zum Beispiel könnte ich eine Geschichte lieber in zehn Stichpunkten lesen wollen, anstatt einen 2.000-Wörter-Artikel. Ich möchte die Geschichte, aber in einem Format, das mir gefällt. Vielleicht erreichen wir irgendwann einen Punkt, an dem wir nicht mehr auf große Technologieplattformen für die Verbreitung angewiesen sind.


Allerdings ist eine starke Markenidentität die Voraussetzung dafür, dass die Menschen wissen, dass sie eine bestimmte Art von Journalismus oder Inhalten nur von uns erhalten. KI können wir dann für prädiktive Analysen nutzen, um das besser zu verstehen.

Letztendlich könnte KI personalisierte Nutzererlebnisse schaffen, sodass die Menschen sich verpflichtet fühlen, direkt auf unsere Seite zu kommen. Zum Beispiel könnte ein Nutzer Inhalte als Stichpunkte oder Audio konsumieren wollen, und diese Art der Personalisierung könnte eine mächtige Möglichkeit sein, unsere Plattform von anderen zu unterscheiden. Ich würde mir wünschen, dass KI zu dieser Vision beiträgt.


Aber es muss über die Technologie hinausgehen. Zuerst muss man eine starke Marke haben, bei der die Menschen erkennen, welche Art von Journalismus man macht. Sie müssen wissen, dass sie zu uns kommen, um eine bestimmte Art von Inhalten oder Erzählweisen zu erhalten. Wenn man das hat, kann KI das unterstützen, indem sie die Personalisierung optimiert oder den Konsum von Inhalten effizienter gestaltet, aber die Marke ist der Schlüssel."


Welche Risiken und Bedrohungen sehen Sie im Zusammenhang mit der technologischen Entwicklung?


"Eines der größten Risiken ist, dass KI mit vielen Vorurteilen behaftet ist. Wenn ich mich auf KI verlasse, um Inhalte zu generieren, ist es möglich, dass die inhärenten Vorurteile des KI-Systems diese Inhalte beeinflussen. Zum Beispiel erhalte ich, wenn ich Midjourney benutze und nach einem Bild von einer Frau frage, die ihr Baby füttert, oft ein Bild einer weißen Frau. Selbst wenn ich ein Bild einer braunen Frau bekomme, haben die Gesichtszüge oft eher kaukasische als asiatische Merkmale. Das ist nur ein Beispiel, aber dieses Vorurteil existiert in allen Arten von KI-generierten Inhalten. Das ist ein großes Anliegen, besonders weil die Entwickler von KI größtenteils aus der westlichen Welt kommen, und dieses Vorurteil kann sich in das System einschleichen.


Ein weiteres Risiko besteht darin, dass KI große Mengen an Inhalten generieren kann, die nicht unbedingt qualitativ hochwertig sind. Dies wird nur zur Informationsüberflutung beitragen und wertvollen Journalismus unter all dem Lärm begraben.

Es besteht auch die Gefahr, dass indische Sprachen vernachlässigt werden. Die meisten KI-Entwicklungen konzentrieren sich auf Englisch oder europäische Sprachen, und daher könnten die lokalen Sprachen in Indien vernachlässigt werden. Im Laufe der Zeit könnten diese Sprachen im digitalen Raum marginalisiert werden.


Schließlich könnten große Technologieplattformen wie Google und Meta KI auf eine Weise nutzen, die die Notwendigkeit verringert, einzelne Nachrichtenseiten zu besuchen. Zum Beispiel erscheinen KI-generierte Zusammenfassungen von Google an der Spitze der Suchergebnisse. Die Leute könnten diese Zusammenfassungen lesen, anstatt auf die eigentlichen Nachrichtenseiten zu klicken, was den Traffic und die Einnahmen der Verlage beeinträchtigen könnte. Suchmaschinen-Traffic ist für digitale Verlage sehr wichtig, und KI-generierte Zusammenfassungen bedrohen diesen.


Ein weiteres großes Problem ist, wie schnell schlechte Akteure KI nutzen können, um Desinformation zu verbreiten. Mit Tools wie KI wird es einfacher denn je, virale Fehlinformationen zu erstellen. KI kann helfen, Deepfakes zu erstellen und Stimmen zu klonen, wodurch es schwieriger wird, zwischen echtem und gefälschtem Inhalt zu unterscheiden. Wir sehen bereits, wie KI in Betrügereien eingesetzt wird, und dieser Trend wird nur noch zunehmen."


 

Ritu Kapur ist Mitbegründerin und CEO von Quint Digital Media Limited, das The Quint betreibt, eine unabhängige Nachrichtenseite in Indien. Sie hat sich bemüht, verschiedene Plattformen für freie Meinungsäußerung zu schaffen, wie zum Beispiel die Initiative „My Report“ von The Quint, die Kampagne „Talking Stalking“ – eine Initiative zur Änderung der Gesetze, um Stalking zu einem nicht auf Kaution freilassbaren Straftatbestand zu machen – und Webqoof, die Faktencheck-Initiative von The Quint. Ritu verbrachte über zwei Jahrzehnte im Rundfunk als Gründerin von Network 18, wo sie unter anderem Auszeichnungen für die Dokudrama-Serie „Bhanwar“ und die Sendung „The Citizen Journalist“ erhielt.

 

Dieses Interview ist Teil von PANTA Experts, in dem wir verschiedene Expertaus der Medienbranche und darüber hinaus interviewen. Interviewer: Jan Kersling (PANTA RHAI).


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